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Evidenzbasierte Medizin

 
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MatthewJefferson
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Anmeldungsdatum: 07.11.2008
Beiträge: 5

BeitragVerfasst am: 08.11.08, 11:51    Titel: Evidenzbasierte Medizin Antworten mit Zitat

Hello Germany,

ich bin Englisch und habe eine Frage zu das Deutsche Gesundheitssystem. Kurz und knapp (und nicht simpel): welche Rolle spielt Evidenzbasierte Medizin in ambulanter und klinischer Praxen?

Wer formuliert medizinische Leitlinien? Und muessen Aerzte sie einhalten?

Zu wem sind Aertze ueberhaupt rechenschaftspflichtig fuer ihre medizinische Entscheidungen?

Verhindern Aerzteorganisationen, dass aerztliche Arbeit standardisiert wird?

Wenn ihr mir kurze Hinweise geben koennt, waere ich sehr dankbar… Auch fuer Links!
Ich versuche gerade Differenzen zwischen Deutschland und UK bei EBM herauszuarbeiten. Ich denke es hat starken Einfluss hier in the UK aber nicht so stark in Deutschland.

Freue mich auf Tips!

Gruesse aus Newcastle Upon Tyne,

MJ
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Anmeldungsdatum: 27.03.2005
Beiträge: 2794
Wohnort: Lörrach

BeitragVerfasst am: 09.11.08, 18:06    Titel: EBM Antworten mit Zitat

1. „Wer formuliert medizinische Leitlinien ?“
Die vom Staat unabhängigen Fachgesellschaften z.B für Innere Medizin, Chirurgie, Gynäkologie etc.
2. a. „Und muessen Aerzte sie einhalten ?“
Müssen sie nicht. Leitlinien sind keine Kochbücher sondern beschreiben Handlungskorridore (Wenn Situation A dann Handlung 1., 2. oder 3. empfohlen, möglich, nicht empfohlen; wenn Situation B dann … usw). Dies ist der Ort, an dem EBM stattfindet. Leitlinien erlauben dem Arzt (noch) Therapiefreiheit, die zunächst „nur“ mit dem Willen des Patienten übereinstimmen muss. (Wer die Therapie bezahlen muss wird hier nicht geregelt)
2. b. Ärzte müssen „Richtlinien“ einhalten, sofern diese medizinisches Handeln betreffen. Richtlinien werden zumeist von staatsnahen „öffentlich-rechtlichen Körperschaften“ erlassen, die zwar gesetz-gebunden aber (noch immer nicht vollständig) weisungs-gebunden arbeiten. Richtlinien orientieren sich in erster Linie an sozialrechtlichen Vorgaben und Gegebenheiten und nur entfernt an EBM. (Was gehört zum Leistungskatalog der „gesetzlichen“ Kassen, in welcher Weise und unter welchen Modalitäten ist eine Leistung zu erbringen, wenn die Kassen sie zahlen sollen… usw)
3. „Verhindern Aerzteorganisationen, dass aerztliche Arbeit standardisiert wird ?“
Nein. Die Fachgesellschaften sind rein ärztliche Organisationen. Sie bringen die Standardisierung medizinischer Arbeit in dem Maß voran, wie es für medizinische Arbeit des gesamten klinischen Fachs sinnvoll ist. Eine Schwierigkeit dabei ist, dass sie zum Beispiel alle Versorgungs-Ebenen im Blick haben müssen, angefangen vom niedergelassenen Allgemeinarzt bis hin zur hochspezialisierten Uniklinik-Abteilung. Daher verlassen als Empfehlung nur Leitlinien die Fachgesellschaft, die auch von allen Versorgungs-Ebenen konsentiert sind. In der Überschau muss man sagen, dass es besonders universitäts-lastige und besonders wenig universitäts-lastige Fachgesellschaften und ebensolche Leitlinien gibt.

Wie ist das denn aktuell im etatisierten UK-Gesundheitssystem, und was gibt es da für Entwicklungen ?

PR
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MatthewJefferson
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Anmeldungsdatum: 07.11.2008
Beiträge: 5

BeitragVerfasst am: 09.11.08, 18:46    Titel: Antworten mit Zitat

Vielen Dank fuer die exakte, detaillierte Antwort!

In England ist EBM viel staerker. Das NICE (National Institute for Clinical Excellence) gibt Best Practice Modelle aus an die sich Aerzte und Pfleger zu halten haben. Wichtig ist zu wissen dass diese guidelines auch Kosten reflektieren, best-practice also efficient und effective ist/sein soll. Bekanntl sind Aerzte in England Angestellte von Staat und sind fuer ihre Handeln haftbar fuer (Wortsperre: Name) Care Trusts - i.e. die kleinste staatliche Einheit die Gesundheitsversorgung organisiert und plant. Diese audit- und accounting-structures schreiten immer weiter fort.

Heute sprechen Medizinsoziologen nicht mehr von einer direkten Arzt-Patient-Beziehung, weil der Arzt nicht mehr als Individuum angeshen wird. Vielmehr ist jeder Arzt vernetzt mit epidemiologischen und ökonomischen Wissen und kann wenige Entscheidung ohne dies machen. Das deutsche Hausarztpraxis gibt es deswegen in Engl. nicht mehr.

Spannend fuer uns ist das dezentrale System in Deutschland wo Aerzte ihre Interessen gegen politische Trends durchsetzen koennen. Unter anderen habe ich gehoert von Widerstand von Aerzten gegen EBM und andere Standardisierungstrends. Deswegen meine Fragen. Aber es ist schwierig aus der Ferne zu beurteilen weil auf der einen Hand gibt es EBM auf der anderen Seite nicht in Form von Handlungsanweisung... etwas komplizierter bei euch.

Vielen Dank nochmal
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Anmeldungsdatum: 27.03.2005
Beiträge: 2794
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BeitragVerfasst am: 09.11.08, 19:48    Titel: Dazu vier Anmerkungen Antworten mit Zitat

1. Regelungstiefe
Ich halte es nach meinem Verständnis von Menschenmedizin nicht nur für unmenschlich sondern für sachlich ausgeschlossen, Standards so zu definieren, dass sie in jedem Augenblick für jeden einzelnen Patienten Gültigkeit haben. Ich sehe in der praktischen Arbeit jeden Tag Fälle, in denen eine singuläre "best practice" nicht existiert. Nicht nur auf dem Papier nicht, sondern tatsächlich nicht.

2. Fortschreibung
Best Practice ist eine Momentaufnahme. Selbst wenn es möglich wäre, an einem Tag für alle Fälle eine Best Practice erschöpfend beschrieben zu haben, wären diese schon am nächsten Tag veraltet und damit falsch.

3. Diktat der Ökonomie
Best Practice und most economic practice werden offensichtlich als Synonyme verwendet. Das sind sie in Wirklichkeit nicht. Ich weiß, dass sehr zahlreiche deutsche Kollegen entweder ins UK auswandern oder periodisch reisen, um dort zu arbeiten, weil sie dort anständig bezahlt werden. Mir würde das nicht genügen.

4. Parallel-Systeme
Eind ganz andere Frage ist, wie zufrieden die Bevölkerung mit seinem so organisierten staatlichen Gesundheits-Fürsorgewesen heute (noch) ist, und ob es nicht auch in UK längst nicht-staatlich organisierte parallele Versorgungssysteme gibt.

PR
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Anmeldungsdatum: 27.12.2006
Beiträge: 939

BeitragVerfasst am: 09.11.08, 21:13    Titel: Evidenz einer Norm zur Evidenz Antworten mit Zitat

PR hat folgendes geschrieben::
...Ich halte es nach meinem Verständnis von Menschenmedizin nicht nur für unmenschlich sondern für sachlich ausgeschlossen, Standards so zu definieren, dass sie in jedem Augenblick für jeden einzelnen Patienten Gültigkeit haben...

Volle Zustimmung als betroffener Patient und nicht zu vergessen, vorwiegend eben immer noch als kongenital normungsunwilliger Mensch.

Und Menschen sind standardisiert?
Ja? Gibt es eine DIN, ISO, EN dazu?
Nun gut, es gibt eine ICD und andere Dinge.

Aber warum schreibt man für Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen, Arztberichte und so bei mir hinten dann so oft .9?
Also diese sekundäre Ziffer steht doch für "wissen wir nicht", "haben wir noch nicht gesehen", "haben wir nicht gelernt", gibt es also nicht, oder doch?

Habe ich darum vor sieben Jahren so oft die Diagnose erhalten: "Da ist Nichts"?
Selbst als ich verzweifelt sagen musste, dass ich selbst als Laie dort ein Gehirn sah, wo die Ärzte "Nichts" sahen, erntete ich nur Zorn und Verständnislosigkeit, obwohl diese Wallungen doch wohl nur mir in dieser Situation zugestanden hätten.

Und nach diesen sieben Jahren habe ich plötzlich ein Gehirn, ja dort ist tatsächlich eines zu sehen, wenn auch recht unbekannt fehlgebildet und die Diagnosen sich auch heute noch bei jedem Kontakt mit anderen Ärzten ergänzen lassen, erst vor ein paar Wochen es wieder so war.

Ich habe darum einfach mal die Frage, wie sich ökonomische Aspekte mit einer so genannt evidenzbasierenden Medizin vereinbaren lassen.
Was ist also mit gegenständlicher und meistens beweisbarer Ökonomie, außer Börsenzockerei, wenn es einfach keine menschliche Evidenz, keine humane Norm geben kann?
Wird sich diese dann einfach mit dem Brecheisen hingebogen, wie ich es ständig erlebte?

Wo finde ich also die "auf Beweismaterial gestützte Heilkunde" in meinem Fall?
Wie kann also ohne Evidenz trotzdem entschieden, klassifiziert, geurteilt, manchmal damit verurteilt werden, nur um mit einer ICD-Nummer abrechnen zu können?

Aber schauen wir doch noch einmal nach, was Evidenz überhaupt bedeutet und in welchem Dilemma wir uns damit befinden, was wie ausgeführt, mir nun nicht neu ist.
Dazu zitiere ich aus einer Wissensdatenbank unter http://de.wikipedia.org/wiki/Evidenz

Zitat:
...So berufen wir uns in Wissenschaft und Alltag also beständig auf „evidente“ Sätze, auf „offensichtliche“ und „selbstverständliche“ Einsichten, ohne den eigentlichen Charakter dieser Einsichten jemals beweisen zu können, denn: „... das Evidenzproblem ist absolut unlösbar ... alle Argumente für die Evidenz stellen einen circulus vitiosus dar und alle Argumente gegen sie einen Selbstwiderspruch... Wer für die Evidenz argumentiert, begeht einen Zirkel, denn er will beweisen, dass es die Evidenz gibt; das zu Beweisende soll also das Ergebnis der Überlegungen darstellen, während er vom ersten Augenblick seiner Argumentation an Evidenz bereits voraussetzen muss. Wer gegen sie argumentiert, begeht einen Selbstwiderspruch; denn er muss ebenfalls voraussetzen, dass seine Argumentationen evident sind.“


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Anmeldungsdatum: 27.03.2005
Beiträge: 2794
Wohnort: Lörrach

BeitragVerfasst am: 10.11.08, 13:02    Titel: hard stuff Antworten mit Zitat

für mindestens drei Aufsätze zu völlig unterschiedlichen Themen.

Was Sie in der Enzyklopädie unter "Evidenz" finden, hat mit "evidenzbasierter Medizin" nur das Wort gemeinsam, sonst nichts.
Wenn dort "evident" bedeutet: ist jedem ohne näheres Hinsehen sofort einleuchtend, sozusagen selbst-verständlich,
so bedeutet evidenzbasierte Medizin eine, die sich dann als abgestuft richtig - machbar - falsch erweist, wenn man die unterschiedlichsten medizinischen Möglichkeiten zu einer Diagnose (einem Syndrom, einem körperlichen Zustand) mit den Methoden der evidenzbasierten Medizin statistisch aufbereitet und bewertet hat.
Eine medizinische Handlungsweise ist nur innerhalb des EMB-Bewertungs-Systems "evident" richtig oder falsch.
Dies kann jeder per (statistisch) unbewaffnetem Augenschein gewonnenen "Offensichtlichkeit", und auch jeder Lebenserfahrung, diametral widersprechen.
In EBM regiert das Gesetz der (großen) Zahl.
Im normalen Leben regiert der wache Menschenverstand. Der ist jedoch für große Zahlen nicht gemacht, weil die per se "unanschaulich" sind.

In der Welt der medizinischen Raritäten existiert keine EBM. Kann sie auch nicht, denn es handelt sich um Raritäten.

ICD-Nummern werden nicht "abgerechnet" (jedenfalls im ambulanten Bereich noch nicht). sondern sie dienen als Abrechnungsbegründungen für abrechenbare Leistungen.

Soweit einverstanden ?

PR
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MatthewJefferson
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Anmeldungsdatum: 07.11.2008
Beiträge: 5

BeitragVerfasst am: 10.11.08, 13:51    Titel: Antworten mit Zitat

Ich freue mich auf die Diskussion in diesem Board! Ich glaube es sind die Argumente von Beitragszahler und DF die ich meine wenn ich von Widerstand gesprochen habe. Es ist vielleicht nicht richtig politische Widerstaende aber es ist starke Widerspruch zu was die Politik will (vermutend man kann herausfinden, was die Politik eigentlich will).

Vielleicht kann man es so sagen, dass Aerzte eine andere Habitus und Identitaet haben in Deutschland. England ist immer noch stark das was viele die nanny-state nennen wo die Leute akzeptieren dass der Staat am besten weiß, was am besten ist fuer die Gesellschaft. Auch wenn es unterschiedliche Ansichten gibt wird doch meist akzeptiert was die Politiker machen. Es gibt private Versorgungssysteme aber die Idee von NHS, staatlich organisierte und geplante health delivery, unterstuetzen die meisten immer noch. Ist quasi ein nationale Mythos.

Wissen Sie wo ich nachlesen kann etwas ueber die Beziehung von Aerzte/Aerzteorganisationen und Staat in das deutsche Gesundheitswesen? Dieses dezentrale System ist wirklich schwer zu begreifen. Vielleicht wissen Sie was sogar zu Identitaet von deutsche Aerzte. Kann man natuerlich nicht pauschal machen, aber dennoch?

Gruss aus England, MJ
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MatthewJefferson
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Anmeldungsdatum: 07.11.2008
Beiträge: 5

BeitragVerfasst am: 10.11.08, 13:59    Titel: Antworten mit Zitat

Zu die Definition von evidence-based und evidence based clinical practice von NICE (see above) - in English, sorry:

Evidence based = The process of systematically finding, appraising, and using research findings as the basis for clinical decisions.

Evidence based clinical practice = Evidence based clinical practice involves making decisions about the care of individual patients based on the best research evidence available rather than basing decisions on personal opinions or common practice (which may not always be evidence based). Evidence based clinical practice therefore involves integrating individual clinical expertise and patient preferences with the best available evidence from research.
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Anmeldungsdatum: 27.12.2006
Beiträge: 939

BeitragVerfasst am: 10.11.08, 15:51    Titel: Antworten mit Zitat

PR hat folgendes geschrieben::
...Was Sie in der Enzyklopädie unter "Evidenz" finden, hat mit "evidenzbasierter Medizin" nur das Wort gemeinsam...

Genau, die Abhandlungen zu medizinischen Evidenzgrundlagen sind mir bekannt und können gesondert auch offen nachgelesen werden.
Dennoch deshalb mal die Erinnerung daran, was Evidenz denn bedeuten mag und warum Evidenz medizinisch zerknirscht seine Anwendung findet, mißverständlich in Sinn und Schrift.
Oder doch nicht, um den Menschen den Beweis des Wissens, damit für und um alle Macht glaubhaft machen zu müssen?

MatthewJefferson hat folgendes geschrieben::
...Evidence based = The process of systematically finding, appraising, and using research findings as the basis for clinical decisions...

Ja genau, nur warum wird es dann nicht gemacht?
Weil erst einmal eine Statistik da sein muss, ob sich die Erforschung des bisher nur einmalig angetroffenen Falles, so wie bei mir, nicht lohnt?
Und wie können dann Forschungen zustande kommen, wenn das gleich von Anfang an ohne Forschung so behauptet wird, dass es so selten und so uninteressant ist?
Kommen wir da nicht doch wieder auf anderem Wege mit anderen Methoden in den Teufelskreis, der die Kritik an der Evidenz und diese selbst ausmacht, egal in welcher Anwendung?

MatthewJefferson hat folgendes geschrieben::
...das dezentrale System ist wirklich schwer zu begreifen. Vielleicht wissen Sie was sogar zu Identitaet von deutsche Aerzte...

Ja, leider geht es hier wohl den meisten Menschen so, egal ob Arzt oder Patient.
Vielleicht ist es aber einfach nur eine deutsche Tugend, einfache Dinge in der Wirklichkeit kompliziert auf dem Papier zu machen.
Auf der anderen Seite ist das auch manchmal sogar ganz gut so.
Nur haben wir heute zu viele Leute, die sich kompetent nennen und die Kompetenzen der anderen Menschen überschreiten.
Und das auch noch oft genug ohne Konsequenzen!

PR hat folgendes geschrieben::
...wenn man die unterschiedlichsten medizinischen Möglichkeiten zu einer Diagnose (einem Syndrom, einem körperlichen Zustand) mit den Methoden der evidenzbasierten Medizin statistisch aufbereitet und bewertet hat...

Na ja, wenn es denn gemacht werden würde, wie auch immer diese Methoden der evidenzbasierenden Medizin kritisch beleuchtet werden müssten.
So könnte ich mit seltenen oder nicht gesehenen Dingen Statistiken empfindlich stören.
Eine Statistik müsste ja auch berücksichtigen, dass Koordinatenbereiche höher aufgelöst in Abschnitten darstellen werden müssten, um auch "Ausreißer" nicht zu verpassen, also zu "beweisen"!
Damit zu beweisen, dass es tatsächlich Raritäten gibt und auch solche sind und dann noch der Beweis einer Behandlungsbedürftigkeit fehlen würde.
Denn vielleicht existieren zu einer bestimmten Zeit, an einem bestimmten Ort oder in einer bestimmten Bevölkerungsgruppe, etc., auffällig gehäuft solche Raritäten, die eben unter solchen Ereignisbedingungen eben keine mehr sind, sondern genau das Gegenteil.
Ist wohl darum auch hier nur eine Frage der Relativität zur selbst erlebten Realität.

Wir würden bei politischen Wahlen ja auch nicht auf die Idee kommen wollen, die Stimmen irgendeiner national wichtigen Partei mit allen Wählerstimmen der Welt zu vergleichen, in der eben international diese nur irgendwo national bedeutende Volksvertretung keine Relevanz, aber lokal eben entscheidende Auswirkungen und Wichtigkeiten hat.
Auf der anderen Seite geblickt in die Vergangenheit hatte eine in der Welt als unbedeutend wirkende nationale Partei später erhebliche Auswirkungen auf die Abläufe dieser Welt.

Weitere Beispiele würden sich ja viele finden lassen.

PR hat folgendes geschrieben::
...In der Welt der medizinischen Raritäten existiert keine EBM. Kann sie auch nicht, denn es handelt sich um Raritäten...

Auch hier könnte ich so urteilen, dass mich doch gar nicht der Vergleich von Erkältungskrankheiten und seltenen Syndromen interessieren kann, um eine sinnvolle Statistik zu erhalten, sondern müsste doch dann themenbezogen, also innerhalb der seltenen Erkrankungen ein Syndrom verifizieren.

PR hat folgendes geschrieben::
...ICD-Nummern werden nicht "abgerechnet" (jedenfalls im ambulanten Bereich noch nicht). sondern sie dienen als Abrechnungsbegründungen für abrechenbare Leistungen...

Hm, den Unterschied als Ergebnis mag ich nicht erkennen.
Aber ist eine für den Arzt mit dem Patienten sinnlos verbrachte Zeit, weil er nicht weiss was mit dem Patienten los ist, egal aus welchen Gründen, nicht eine .9 oder F.-Klassifizierung wert?

Würden die langwierigeren und teureren Untersuchungen des Patienten und die ebenfalls teure Vermehrung der Lehre beim Arzt nicht unweigerlich zum Ein- oder Aufstieg in klare Kassifizierungsschlüssel führen?

So kann doch die .9-Klassifizierung unmöglich einer evidenzbasierenden Medizin entsprungen sein.
Oder habe ich da jetzt in meinem bewusst einfachen Denken etwas übersehen?
Das meine ich auch nicht böse, denn ich finde die Antworten auf diese Fragen hier doch auch ganz spannend, auch wenn ich jetzt schon weiß, dass diese meine Fragen einen infantilen Charakter ausweisen.

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BeitragVerfasst am: 10.11.08, 20:58    Titel: Die ICD-Klassifizierung als Solche Antworten mit Zitat

hat mit evidenzbasierter Medizin nicht auch nur das Geringste zu tun. Als die von Staats wegen zwangseingeführt wurde, begann ich im iNet zu lesen und zu schreiben.

Dass überhaupt eine Klassifizierung eingeführt wurde, hat damit zu tun, dass deutsche Kassen rein garnichts von dem verstanden, wofür sie anderer Leute Geld ausgeben, von den Diagnosen zu schweigen. Ich war immer dafür gewesen, dies dringend zu ändern. Man hat es geändert, aber auf dem niedrigst denkbaren sachlichen und fachlichen Niveau.

Einschub: als ich 76 bis 78 Assi in einer größeren Chirurgie war - der Chef war ursprünglich gelernter Pathologe mit Vorgeschichte als Pathologie-Prof in VietNam - hatten wir zu statistischen Zwecken eine hauseigene Diagnosen-Klassifizierung. Sie passte auf eine damals handelsübliche Rechnerlochkarte und hatte eine schlichte naturwissenschaftliche Grundlage: Organ, Seite, Pathogenese (Tumor, Entzündung, Degenration, Stoffwechselstörung, Unfall, Hereditär). Ich glaub, das war alles. Damit ließen sich alle damals bekannten Diagnosen eindeutig verschlüsseln, wer Medizin studiert hatte war in zwei Minuten damit fertig. Einschub Ende.

Als ICD eingeführt wurde stattdessen die geringfügig aktualisierte Fortschreibung der amtlichenTodesursachen-Statistik der britischen Lebensversicherungs-Unternehmen aus dem 19. Jahrhundert. Einschließlich aller Kolonialabenteuer, die einem britischen Staatsbürger so zustoßen konnten wie Tod durch Krokodilbiss. Die Fortschreibung war genau so lächerlich und ist es bis heute. Man konnte wenn man wollte einen Fahrzeugunfall mit Personenschaden viel genauer ICD-codieren (hatte das Fahrzeug drei oder vier Räder, war es mit Verbrennungsmotor oder elektrisch oder von Tieren oder von Hand angetrieben usw usf.) als häufige Erkrankungen. Bis heute mein tägliches Brot: ich kann codieren wo in einer Brust ein Krebs sitzt, aber ich kann nicht codieren, welche biologischen Eigenschaften und welches genaue Stadium, folglich welche Prognose er hat. Und das Opus umfasst einen plan vollen eng beschriebenen Ordner A4. Hab eben "Lymphoedem des Beins nach austherapiertem Zervixkarzinom" gesucht und auch mit der dafür spezialisierten Software zum xten Mal nichts gefunden. (Vielleicht kann mir ja einer der Anwesenden weiterhelfen...).

So, und die 9 am Schluß eines ICD-Codes, die belegt eigentlich in schönster Klarheit, was für ein pseudopräziser Mist die ICD-Codierung in Wirklichkeit bis heute ist. Da sind nämlich alle "sonstigen und nicht näher bezeichneten" Subgruppen der jeweiligen Hauptgruppe gelistet. Und die machen häufig das Gros aus.

@MatthewJefferson: wenn Sie Einblick in das Selbstverständnis der Ärzte in Deutschland kriegen wollen, gucken Sie unter Bundesärztekammer oder Landesärztekammer und dort nach der Berufsordnung für Ärzte.

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Anmeldungsdatum: 27.12.2006
Beiträge: 939

BeitragVerfasst am: 11.11.08, 00:46    Titel: Antworten mit Zitat

Jawohl, und jetzt konnten die Gedankengänge zur Utopie einer Normung des humanoiden Wesens doch noch zwischen Arzt und Patient eine quasi nicht von Normungsinstituten abgenommene Eichung erfahren.
Brauchen wir nicht. Wissen wohl aber die Politokraten nur noch nicht.

Obwohl Letter F finde ich gar nicht so schlecht, denn der steht ja auch in der E-Technik für die Sicherung.
Ob's ein Zufall war?

Und zur 9, so nehmen wir mal so als kleinen Ausschnitt eins, zwei Neune bei mir:
Q04.9 - Angeborene Fehlbildung des Gehirns, nicht näher bezeichnet oder
Q75.9 - Angeborene Fehlbildung der Schädel- und Gesichtsschädelknochen, nicht näher bezeichnet oder...

Wieso eigentlich nicht näher bezeichnet, nur weil es bei der 4.9 mehrere Anomalien sind, die ich schon als Laie mühselig über Jahre selbst identifizieren konnte, tatsächlich fast allesamt kein Praxisalltag sind, oder nur weil es bei der 75.9 mehrere Suturen sein müssten, die alle schon im Einzelnen näher bezeichnet sind, ebenso exakt wie ein Reptilienbiss?
OK, dann müsste es vielleicht z.B. eine Q4.9.n.n.n.n... oder Q75.9.n.n.n.n.n.n.n...... geben, in Abhängigkeit der milliardenfachen, und dann nur einfachen Möglichkeiten, allein nur für den Ist-Moment.

Die ICD sieht ja auch kein Archiv vor, dass ja mal in späteren Tagen wieder bemüht werden könnte, denn jede Erfassung muss ja statisch werden, damit diese zur Normungsgröße wird.
Dynamische Faktoren, eine der grundsätzlichsten Eigenschaften evolutionärer Artenvielfalt, können durch eine recht realitätsverzerrte Normungsveranstaltungsidee niemals berücksichtigt werden.

OK, was wünsche ich mir?
Ich wünschte mir eine nicht für K(l)assifikationen missbrauchte evidenzbasierende, sondern honorarbasierende Medizin, die erfahrungs- und beweisgebunden sein darf und soll, die motiviert, die den Ärzten Lust macht auf mithin den spannensten Themen innerhalb der Naturwissenschaften.
Ich wünschte mir, dass ich mich somit wieder meinen eigentlichen Interessen in anderen Gebieten zuwenden könnte, weil durch vorherigen Satz ein Vertrauen als Programm nur Gesetz sein kann, eben das wirkliche Gesetz und nicht diese erfundenen Machtausübungs- und Kontrollgesetze von Parteien dieses Medizingefüges, die sonst rein gar nichts mit uns Patienten und Ärzten zu schaffen haben.

Liebe Grüße

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